Sonntag, 16. Dezember 2012

Die Netzöffentlichkeit(en)

Risiko für mediale Vorverurteilungen oder Kontrollinstanz?

Der BürgerInnenjournalismus - Chance für die Meinungsfreiheit, Schrecken für JournalistInnenverbände - ist heute ein konstitutiver Bestandteil des publizistischen Mediensystems: ob Systematisierungen und empirische Untersuchungen im Zuge medienethischer Debatten, Bezugnahmen und Kolportierungen durch etablierte Massenmedien oder genuine (alternative) Medienberichterstattung - die Netzöffentlichkeiten(en) sind Arenen in einem Kampf um Aufmerksamkeit. Die Frage ist nur: für oder gegen mediale Vorverurteilungen?


Die Verortung der Netzöffentlichkeit(en) im System der medialen Vorverurteilung


Der Zugang zum Internet setzt nicht nur Lesekompetenz voraus.
Foto: Steve Rhode (CC BY-NC-ND 2.0) bei flickr.com.
Laut ARD/ZDF-Onlinestudie 2012 nutzen drei Viertel der Deutschen, d.h. etwa 54 Millionen Menschen, den Zugang zum Internet. Prinzipiell kann jeder von ihnen an den Netzöffentlichkeit(en) partizipieren, der des Lesens und Schreibens mächtig ist und weiß, wie man sich bei facebook (oder google plus) anmeldet (zum Begriff der Netzöffentlichkeit(en) Beck 2007: 108ff. und Bieber 1999: 56ff.). Dass Medienkompetenz jedoch mehr ist als die Fähigkeit, einen Browser zu öffnen, permanent unter Pseudonymen NutzerInnenkonten zu erstellen und diese auf der fragwürdigen Hetzjagd nach Kloutpunkten zu verbinden, liegt auf der Hand (siehe zum Begriff der Medienkompetenz Schorb 2005): Mediale Inhalte und Strukturen gilt es auf Basis von Wissen analysieren und bewertend einordnen zu können. Das eigene mediale Handeln muss kritisch-reflexiv durchdrungen werden. Moralische Urteile - gleichauf welchem gesellschaftlichen Konsens oder Selbstbindungskräften sie basieren - haben genauso Geltung wie im professionellen journalistischen Bereich, da Kommunikation stets auf moralischen Normen basiert (vgl. Beck 2010: 131f.)
Welche Funktionen nehmen diese Medienkompetenz erfordernden Netzöffentlichkeiten im System der medialen Vorverurteilung ein? Sind sie in erster Linie ein Risikofaktor, weil journalistische Geltungsansprüche, etwa in Ziffer 13 im Pressekodex des Deutschen Presserats, im Web 2.0 kaum eine Rolle spielen (vgl. Beck 2010: 142f.)? Kolportieren sie die Verfehlungen des professionellen Journalismus oder stacheln ihn gar dazu an, gegen Ziffer 13 zu verstoßen? Oder sind sie viel mehr Kontrollinstanzen, die etablierte Medienberichterstattung kritisch analysiert? Vermutlich ein bisschen von allem. Wichtiger ist aber die Frage: Wie erreiche ich einen moralisch vertretbaren Konsens, ohne dass a) sich die BürgerjournalistInnen in ihrem Freiheitsempfinden beeinträchtigt fühlen und b) keine Persönlichkeitsrechte Dritter verletzt werden (vgl. Schwenk 2002, nach Beck 2010: 146f.)?

Eine Lösung: Die Professionalisierung des Bürgerjournalismus?



Akteure alter und neuer Medien hielten 2007 eine "Session
Bürgerjournalismus" am "Jonettag" in Hamburg ab.
Foto: dream4akeem (CC BY-NC 2.0) bei flickr.com.
Wo führt sie hin, die Zukunft des Journalismus? Aus einer eher kulturpessimistischen Perspektive hat professioneller Journalismus eigentlich keine Zukunft. Zu viele Laien - die sich selbst wie etwa bei bild.de als "Lesereporter" bezeichnen würden - haben ihr "Netz" im publizistischen Mediensystem gesponnen. BloggerInnen versuchen als "Gatewatcher" (nach Bruns 2005), die thematischen Lücken aufzufüllen, die das gatekeeping-System der etablierten publizistischen Medien hinterlässt (vgl. Lovink 2008: 38f.). Stichwort: Bürgerjournalismus (vgl. etwa Emmer / Wolling 2010: 45). Öffentlichkeit(en) sind nicht mehr zu denken ohne entsprechende Netzöffentlichkeit(en). Professioneller Journalismus - oder das, was sich dafür hält - muss die anderen PlayerInnen im Web 2.0 also dulden, für die Inhalt und persönliche (Gegen-)Meinung über den Gehalt der medialen Quellen geht (vgl. Beck 2010). Die Lösung: Die AkteurInnen der "alten" und "neuen" Medien veranstalten wie im September 2007 am "Jonettag" ein gemeinsames "Mediacamp" in Hamburg, um mal ein bisschen über die veränderten Regeln zu verhandeln - klassisch (auf einem Podium mit VertreterInnen etablierter Massenmedien, MedienwissenschaftlerInnen und freien JournalistInnen) und bürgernah (mit einem Format, das sich "barcamp" nennt und dessen Konzept offenbar nur die anwesenden BürgerjournalistInnen verstanden haben). Was bei den "Sessions" (also zuvorderst Vorträgen und Podiumsdiskussionen) rauskam? Laut tintenblog-Autor Achim Barczok nicht viel: nur, dass JournalistInnen und BloggerInnen sich nach wie vor darüber streiten, ob es "Medienwächter" geben sollte, die Medienangebote nach Kriterien des "guten" Journalismus beurteilen. Eine Antwort darauf gab es freilich nicht - oder Barczok hatte sie nicht mitbekommen, weil er gerade mit Bloggen beschäftigt war. Auch dass neue Kommunikationsformen in die journalistische Ausbildung zunehmend integriert werden, wurde auf dem Podium bekannt gegeben: Nicht diskutiert wurde hingegen, dass BürgerjournalistInnen eine solche Ausbildung jedoch nicht genießen.
Was also tun, um Geltungsansprüche, die schon in der Mitte des 20. Jahrhunderts an den Journalismus gestellt worden sind, auf das Web 2.0-Zeitalter zu transferieren? Klaus Beck (2010) schlägt vor, auf Netiquetten zu setzen. Ihre Wirkung basiere auf der Macht der Überzeugung bzw. durch soziale Sanktionen - nicht also durch Gesetz und rechtliche Strafmaßnahmen. Ferner brauche es Selbstkontrolle, damit das Netz sich selbst regulieren kann (vgl. Beck 2010: 148f.). Immerhin, Versuche gibt es ja schon: FSM, USK.online und FSK.online...

Die Konsequenzen für die mediale Vorverurteilung im Zeitalter des Web 2.0


Eingangs sind bereits Fragen dahingehend gestellt worden, welche Funktionen Netzöffentlichkeiten im System der medialen Vorverurteilung einnehmen. Da die Kapazitäten dieses Blogs begrenzt sind, werde ich diesem Systematisierungsversuch in einer eigenständigen Seminararbeit nachgehen - mit dem Ziel, Lösungsansätze zu erarbeiten, mit denen medialer Vorverurteilung im Mediensystem präventiv bzw. intervenierend begegnet werden kann. Hierbei geht es nicht nur um die Frage, wie Bürgerjournalismus moralisch agieren muss, sondern auch darum, wie etablierte Medienberichterstattung Netzöffentlichkeit(en) für sich nutzbar machen kann, um die eigenen Geltungsansprüche optimaler einzulösen. Wagt man an dieser Stelle eine kulturpessimistische Prognose, müsste man davon ausgehen, dass moderner Journalismus als Mischform von Professionalität und Bürgerbeteiligung alle seine bisherigen Geltungsansprüche aufgeben müsste und somit medialer Vorverurteilung nichts mehr entgegen stünde: publizistische Anarchie statt deliberativer Teilöffentlichkeiten. Eine optimistische Betrachtung würde hingegen davon ausgehen, dass der selbstbestimmte online agierende Mensch moralisch richtig handelt, wenn ansonsten kommunikativer Ausschluss aus einer Netzöffentlichkeit droht (vgl Beck 2010: 136ff.). Die Realität liegt vermutlich irgendwo dazwischen.

Literatur


  • Beck, Klaus (2007): Öffentlichkeit, Öffentliche Meinung und öffentliche Kommunikation. In: Beck, Klaus (Hrsg.): Kommunikationswissenschaft. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft, S. 99-115.
  • Beck, Klaus (2010): Ethik der Online-Kommunikation. In: Ders./Wolfgang Schweiger (Hrsg.): Handbuch Onlineforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 130-155.
  • Bieber, Christoph (1999): Politische Projekte im Internet. Online-Kommunikation und politische Öffentlichkeit. Frankfurt am Main / New York: Campus-Verlag.
  • Bruns, Axel (2005): Gatewatching. Collaborative Online News Produxtion. New York: Peter Lang.Emmer, Martin / Wolling, Jens (2010): Online-Kommunikation und politische Öffentlichkeit. In: Schweiger, W. / Beck, Klaus (Hrsg.): Handbuch Online-Kommuniktion. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 36-58.
  • Lovink, Geert (2008): Zero Comments. Elemente einer kritischen Internetkultur. Bielefeld: Transcript.
  • Schorb, Bernd (2005): Medienkompetenz. In: Hüther, Jürgen / Schorb, Bernd (Hrsg.): Grundbegriffe Medienpädagogik. 4. Auflage. München: Kopäd, S. 257-262.
  • Schwenk, Johanna (2002): Cyberethik. Ethische Problemstellungen des Internets und Regulierungsansätze aus Sicht der Online-Nutzer. München: Reinhard Fischer.

Online-Quellen