Ich teile, also bin ich: Die mediale Vorverurteilung (und ihre Kritik auf der Meta-Ebene) im Web 2.0
Kindesentführung, Vergewaltigung, Mord - das Thema der medialen Vorverurteilung (be)trifft längst nicht nur Personen der Zeitgeschichte! Eine Auswahl themenbezogener Videos findet ihr auf meinem Channel. Eine Erkenntnis vorab - es sind nicht die ursprünglichen MacherInnen der Videos, die sich auf einer Meta-Ebene mit der Problematik auseinandersetzen, sondern diejenigen, die sie ins Internet stellen.
"Der Berufsschüler aus Emden ist nicht Lenas Mörder" - irgendwie aber schon
Mediale Vorverurteilung arbeitet sich nicht allein an Personen der Zeitgeschichte ab. Beispiel: Emden. Wer im März 2012 glaubte, deutscher Journalismus habe aus den Verfehlungen der letzten Jahrzehnte gelernt (Stichworte: Gladbeck, Barschel), hat vielleicht Recht: Deutsche Journalisten betreiben die Gier nach Publizität aus Gründen eines persönlichen Prestiges und einer vermeintlichen Autorität heute durchaus subtiler (vgl. Habermas 1990: 292): und lösen ihren eigenen Geltungsanspruch nachträglich ein (vgl. Beck 2010: 136ff.). Problematisch: Das Internet vergisst nicht, noch weniger seine NutzerInnen.
Was war geschehen?
Ein elfjähriges Mädchen wird am 24. März tot in einem Parkhaus aufgefunden - kaum vier Tage später kolportiert u.a. die Online-Redaktion von n-tv eine dpa-Meldung: "Mordfall Lena in Emden - Polizei nimmt Verdächtigen fest". Interessant - aber daran haben wohl nicht allein die Medien Schuld: Ob es überhaupt einen "Mörder" gibt, müsste eigentlich ein Gericht feststellen (aber das nur am Rande). Es gibt sogar ein Video, das die Überwachungskameras aufgezeichnet haben und das die Polizei ins Netz stellt - schließlich vielfach von InternetnutzerInnen kopiert und auf YouTube gestellt. Darauf zu sehen ist ein dunkel gekleideter Mann mit Kapuze, jedoch keine Tat (aus Jugendschutzgründen wäre dies für die mediale Inszenierung wohl auch nur hinderlich gewesen). Das Bild hat indessen nicht die beste Qualität. Aber offenbar ist sie gut genug, um einen 17-jährigen Berufsschüler festzunehmen. Am selben Tag titelt die Hamburger Morgenpost: "Junge (15) soll Verdächtigen am Gang erkannt haben". Das Internet macht es möglich.
Mediale Vorverurteilung versus Verurteilung der Vorverurteilung?
Ein Zeitsprung: 48 Stunden später wird der Verdächtige wieder freigelassen - zu entnehmen ist dies u.a. einem YouTube-Video (siehe Channel), das sich wenig von einem Online-Artikel auf Süddeutsche.de unterscheidet: Das Video entstammt einem Bericht der Aktuellen Stunde auf dem Westdeutschen Rundfunk. Rein inhaltlich nehmen sich die Sendung und der Artikel wenig - sie thematisieren die Vorverurteilung von Polizei und Justiz, die dazu führte, dass nun ein wütender Mob - vor allem im Social Web - die Todesstrafe(!) für den unschuldigen 17-Jährigen fordert (wenigstens so lang, bis der nächste "Tatverdächtige" präsentiert wird). Wer ist also Schuld? - wenn es nach den Journalisten geht, die deutschen Behörden und das Mitmach-Internet. Laut Süddeutsche.de habe Oberstaatsanwalt Bernard Südbeck nach eigener Aussage zwar "stets darauf hingewiesen, dass der 17-Jährige lediglich Tatverdächtiger sei, um einer Vorverurteilung entgegenzuwirken". Wenn man dann weiterliest - insbesondere zwischen den Zeilen - hat genau dies aber zur "Hetzjagd in sozialen Netzwerken" geführt. Was der kritischen Betrachtungsweise der Journalisten fehlt, ist eigentlich nur die Kritik an sich selbst. Vielleicht haben sie im medialen Chaos der Teilöffentlichkeiten im Netz einfach die Orientierung verloren und übersehen, dass ja sie die Mittler der ursprünglichen Polizeimeldungen waren (vgl. u.a. Beck 2007: 107f.; vgl. Pfetsch / Bossert 2006: 204)? Der YouTube-Nutzer ThomKutlatschkowa2 hat es nicht und betitelt sein vom WDR geklautes Video mit "Mediale Vorverurteilung - Der 17 jährige Berufsschüler aus Emden ist nicht Lenas Mörder". Na endlich - jetzt muss das also nur noch der "überschaubaren" Zahl aller facebook-NutzerInnen beigebracht werden...
Social Media - Fluch und Segen der medialen Vorverurteilung?
Von "Lynchjustiz" schreibt Süddeutsche.de im Zusammenhang mit social communities. Anders als in den etablierten Medien wird "mediale Vorverurteilung" dort aber nicht nur betrieben, sondern auch auf der Meta-Ebene diskutiert. Die von Christoph Bieber konstatierte digitale soziale Bewegung und Gegenöffentlichkeit im Netz scheint sich zu bewahrheiten (vgl. Bieber 1999: 174-181): Beispiel YouTube-Nutzer Karl MaierVideo (siehe Channel) - Während in seinem hochgeladenen Video die Moderatorin der Sendung ZIP 2 vom österreichischen Fernsehsender ORF2 einleitend berichtet, ein Vater habe seiner Frau den 5-jährigen Bub entrissen, sieht der User, dessen Aussagen sicher auch nicht weniger an ExpertInnenwissen geknüpft sein mögen, das anders (vgl. Emmer / Wolling 2010: 40): "Nicht Vater hat Sohn entführt - es war die Mutter! Obsorge berechtigter dänischer Vater wird per Haftbefehl durch Europa gejagt und medial vorverurteilt" - ein mediales Machtspiel David (Internet-NutzerInnen) gegen Goliath (klassische Medien)?
Literatur
- Beck, Klaus (2007): Öffentlichkeit, Öffentliche Meinung und öffentliche Kommunikation. In: Beck, Klaus (Hrsg.): Kommunikationswissenschaft. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft, S. 99-115.
- Beck, Klaus (2010): Ethik der Online-Kommunikation. In: Ders./Wolfgang Schweiger (Hrsg.): Handbuch Onlineforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 130-155.
- Bieber, Christoph (1999)(Hrsg,): Politische Projekte im Internet. Online-Kommunikation und politische Öffentlichkeit. Frankfurt am Main / New York: Campus-Verlag.
- Emmer, Martin / Wolling, Jens (2010): Online-Kommunikation und politische Öffentlichkeit. In: Schweiger, W. / Beck, Klaus (Hrsg.): Handbuch Online-Kommuniktion. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 36-58.
- Habermas, Jürgen (1990): Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. 1. Aufl. − Unveränd. Nachdr. d. zuerst 1962 im Hermann Luchterhand Verl., Neuwied, ersch. Ausg., erg. um e. Vorw. zur Neuaufl. 1990. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
- Pfetsch, Barbara / Bossert, Regina (2006): „Öffentliche Kommunikation“. In: Bentele, Günter u.a.(Hrsg.): Lexikon Kommunikations- und Medienwissenschaft. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 203-204.
Online-Quellen
- Hamburger Morgenpost Online: TOTE LENA IN EMDEN. Junge (15) soll Verdächtigen am Gang erkannt haben. Online-Artikel vom 28.03.2012 [zuletzt geprüft: 21.11.2012]
- n-tv.de: Mordfall Lena in Emden. Polizei nimmt Verdächtigen fest. Online-Artikel vom 27.03.2012 [zuletzt geprüft: 21.11.2012]
- Süddeutsche.de: Überraschende Wende im Fall Lena aus Emden. Jugendlicher wieder frei - Polizei sucht Mann aus Video. Online-Artikel vom 30.03.2012 [zuletzt geprüft: 21.11.2012]
- YouTube-Channel von Ferrau de Chateaub [zuletzt geprüft: 21.11.2012]
- YouTube-Channel von Karl MaierVideo [zuletzt geprüft: 21.11.2012]
- YouTube-Channel von ThomKutlatschkowa2 [zuletzt geprüft: 21.11.2012]
- YouTube-Video von flashmobable. Parkhaus Emden Mehrfachschleife. Hinzugefügt am 27.03.2012 [zuletzt geprüft: 21.11.2012]
- YouTube-Video von Karl MaierVideo. Mutter hat Oliver vor 1 Jahr nach Österreich entführt !. Hinzugefügt am 04.04.2012 [zuletzt geprüft: 21.11.2012]
- YouTube-Video von ThomKutlatschkowa2. Mediale Vorverurteilung - Der 17 jährige Berufsschüler aus Emden ist nicht Lenas Mörder. Hinzugefügt am 30.03.2012 [zuletzt geprüft: 21.11.2012]