Mittwoch, 31. Oktober 2012

„Für Schavan ist der Schaden angerichtet“

Die Vorverurteilung in der Medienberichterstattung


Plagiat, Vergewaltigung, Mord! − Während (Bürger-)Journalisten eifrig darum bemüht sind, das mutmaßliche Fehlverhalten ihrer Mitmenschen − zuvorderst Personen der Zeitgeschichte − akribisch aufzudecken, bemühen sie diese auf dem medialen Schlachtfeld um Schadensbegrenzung: Was bleibt, ist der Fluchtweg nach vorn mit der Vorverurteilung im Nacken.


Das Thema der medialen Vorverurteilung ist aktueller denn je − Beispiel Annette Schavan: Was Anfang Mai 2012 auf schavanplag − einer „Dokumentation mutmaßlicher Plagiate in der Dissertation von Prof. Dr. Annette Schavan“ − seinen Lauf nahm, durchzieht die Medienagenda bis heute. Mittlerweile habe der Blogger namens Robert Schmidt die gesamte Dissertation der Bundesministerin für Bildung und Forschung analysiert, schreibt der Unispiegel und präsentiert dem Publikum dessen − wiederum ungeprüftes − Fazit: „Das geht deutlich über gelegentliche Fehler hinaus, die man durch Ungeschicklichkeit oder Schludrigkeit erklären könnte.“
Das Problem: Was als möglicherweise zurecht kritischer und in den Massenmedien kolportierter Vorwurf publiziert wird, verselbstständigt sich in der mediatisierten Welt schnell als Vorverurteilung (vgl. hierzu Schorb 2011). Die Folgen sind bekannt. Mehr oder weniger qualifizierte (und anonyme) „Plagiatsjäger“ verfolgten die Spur auf plagiatsgutachten.de weiter, das eigentlich „vertrauliche“ 75-seitige Gutachten eines Prüfers der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität sickert bald daraufhin durch die Medien. Hochschullehrer Stefan Rohrbacher − Vorsitzender eines Promotionsausschusses − bescheinigt der Wissenschaftsministerin „eine leitende Täuschungsabsicht“. Bis zu diesem Zeitpunkt hat der Ausschuss freilich überhaupt noch nicht getagt. An den einzig zuständigen Fakultätsrat kann dessen Empfehlung folglich nicht rausgegangen sein − ist ja aber auch gar nicht mehr nötig: Denn „Schummel-Schavan“ − so sie bereits von der Online-Redaktion von express.de genannt wird − ist in diesem Moment zwar noch nicht ihren Doktortitel los, ihr Ansehen aber allemal: „Für Schavan ist der Schaden angerichtet“, titelt Süddeutsche.de. Man könnte fast meinen, sie hätten aus der Affäre Kachelmann gelernt und prangern nun nach dem Vorbild von Deutschlandfunk die mediale Vorverurteilung an.

Wer ist verantwortlich bzw. wem gegenüber? 


Sind es die bloggenden Bürger, die von ihrem Recht auf Meinungsfreiheit Gebrauch gemacht haben und ihrem subjektiven Gerechtigkeitssinn gefolgt sind (vgl. Pürer 2003: 151)? Die Journalisten, die als Mittler von Öffentlichkeit eben jene Standpunkte kolportieren (müssen) und für Recherchen keine Zeit oder keine Lust haben (vgl. Pfetsch, Barbara/Bossert 2006: 204)? Oder die Betroffenen, deren Rolle als Täter oder Opfer (eigentlich) noch nicht abschließend geklärt ist und die ihrerseits an den medialen Teilöffentlichkeiten beteiligt werden wollen (vgl. Emmer / Wolling 2010: 45)? Und welche Verantwortung trägt das mehr oder weniger passive und laienhafte Publikum, das 24/7 die Versorgung mit aktuellen Fakten und möglichst einfachen Erklärungen gewöhnt ist und auf legitime Schuldzuweisungen nicht gern allzu lange wartet, sodass es wiederum selbst im Internet aktiv wird (vgl. Pfetsch / Bossert 2006: 203; vgl. Bieber 1999: 186ff.)?


Aber: Was ist überhaupt zu verantworten bzw. wofür gilt das? 


Soll die Vorverurteilung der Personen und deren permanenter Image-Schaden an sich verantwortet werden? Das Versagen journalistischer Geltungsansprüche und der daraus resultierende Schaden für den Berufsstand (vgl. Beck 2010: 136ff.)? Das Profilieren individueller Akteure, indem diese anderen öffentlich medial schaden? Oder dass die Vorverurteilten ihnen überhaupt erst einen Anlass dazu geben?

Ferner: Wovor soll sich verantwortet werden und welche Kriterien liegen dem zugrunde? 


Ist es einzig das schlechte Gewissen, welche der medialer Vorverurteilungen als Instanz gegenübersteht? Ist es der Deutsche Presserat, der nachdrücklich auf die journalistische „Unschuldsvermutung“ hinweisen muss, während er gerade wegen der Berichterstattung über den Mord an einer Elfjährigen in Emden in einem Berg von Beschwerden erstickt? Oder obliegt die Rechtfertigung doch wieder den ursprünglich von vornherein „verurteilten Tätern“, die das Urteil entsprechender Gremien (z.B. eines Fakultätsrats) und der Öffentlichkeit über sich ergehen lassen müssen (vgl. Pfetsch / Bossert 2006: 203)?

Wer sagt was? − Und wer sollte es besser sein lassen?


Betrachtet man den Journalismus als Mittler realer Geschehnisse (vgl. Pfetsch / Bossert 2006: 204) − oder zumindest von Wirklichkeitsausschnitten −, geht es um die Frage: Welche Geltung haben journalistische Geltungsansprüche (vgl. Beck 2010: 136ff.)? Der Deutsche Presserat bezieht dazu mehr oder weniger eindeutig Stellung in seinem Pressekodex: Im Sinne der Berufsethik gelten publizistische Grundsätze, so insbesondere die Unschuldsvermutung (Ziffer 13). Die Berichterstattung dürfe zwar nicht „vorverurteilen“, dennoch dürfe eine Person − im nicht juristischen Sinn − als Täter bezeichnet werden, z.B. wenn „Beweise vorliegen“: „Zwischen Verdacht und erwiesener Schuld ist in der Sprache der Berichterstattung deutlich zu unterscheiden“. Wer jedoch „Schuld“ − im ebenfalls nicht juristischen Sinn − überhaupt feststellen kann, bleibt fraglich. Journalisten sollen die Öffentlichkeit „sorgfältig“ unterrichten. Der Spielraum ist besonders bei Amts- und Mandatsträgern sowie Personen der Zeitgeschichte groß, „wenn die ihnen zur Last gelegte Tat im Widerspruch steht zu dem Bild, das die Öffentlichkeit von ihnen hat“ − Eine plagiierende Wissenschaftsministerin bildet hierzu das perfekte Beispiel.

So weit also die − idealisierte berufsständische − Perspektive von Journalisten. Was aber ist die Sichtweise des mehr oder weniger aktiven Publikums? Im Fall von Dr. Schavan ist dieses mehrfach dimensioniert: Blogger − die sich irgendwo zwischen aktivem Rezipient der bisherigen thematischen Berichterstattung (Stichwort: Plagiate) und Bürgerjournalist verorten − suchen wie auf schavanplag gezielt nach Fehlern in Dissertationen: Die Promovierten sind „schuldig“, sobald sich Hinweise finden. Die Blogger finden Zuspruch − Nachahmer beginnen ebenfalls zu bloggen und bestärken sich gegenseitig in ihrer Nicht-Unschuldsvermutung. Inzwischen berichten auch wieder die herkömmlichen Medien, um nicht den Anschluss an das Social Web zu verlieren. Und dann? „Experten“ wie Stefan Weber melden sich darin zu Wort und beantworten die Frage, ob die Ministerin den Doktortitel verlieren soll, mit einem klaren „Jein“. Die „öffentliche Meinung“ (Pfetsch / Bossert 2006: 203) des eher passiven Publikums ist bestenfalls durch Meinungsumfragen in Erfahrung zu bringen und wird als solche veröffentlicht: 51 % der 1.000 befragten Personen wollen laut Forsa nicht, dass Frau Schavan zurücktritt. Aha.

Und schließlich sind da noch die betroffenen Akteure selbst, denen hier und dort Räume als ihre „medialen Bühnen“ zur Verfügung gestellt werden: Als da wären einerseits die, die vermutlich unschuldig sein müssten, aber beschuldigt werden. Ein Argument von Schavan: „Es ging mir damals nicht um den Titel, sondern um das Thema“ − Was sollte sie auch anderes behaupten? Und andererseits sind es diejenigen, die aus demselben Milieu der vermeintlichen „Täter“ stammen: Regierungsparteiangehörige (Unschuldsvermutung), Opposition (Nicht-Unschuldsvermutung) sowie Wissenschaftler (sowohl als auch).


Quellen und Sammlungen zum Thema


Sammlungen zum Thema


Literatur

  • Beck, Klaus (2010): Ethik der Online-Kommunikation. In: Ders./Wolfgang Schweiger (Hrsg.): Handbuch Onlineforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 130-155.
  • Bieber, Christoph (1999)(Hrsg,): Politische Projekte im Internet. Online-Kommunikation und politische Öffentlichkeit. Frankfurt am Main / New York: Campus-Verlag.
  • Emmer, Martin / Wolling, Jens (2010): Online-Kommunikation und politische Öffentlichkeit. In: Schweiger, W. / Beck, K. (Hrsg.): Handbuch Online-Kommuniktion. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S, 36-58.
  • Pfetsch, Barbara / Bossert, Regina (2006): „Öffentliche Kommunikation“, in: Bentele, Günter u.a.(Hrsg.): Lexikon Kommunikations- und Medienwissenschaft. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 203-204.
  • Pürer, Heinz (2003): Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Ein Handbuch. Konstanz: UTB.
  • Schorb, Bernd (2011): Zur Theorie der Medienpädagogik. In: Moser, Heinz / Grell, Petra / Niesyto, Horst (Hrsg.): Medienbildung und Medienkompetenz. Beiträge zu Schlüsselbegriffen der Medienpädagogik. München: Kopäd, S. 81-94.

Online-Quellen

1 Kommentar:

  1. Angegriffen werden - zu recht - zu allererst jene, die ein Plagiat statt einer Doktorarbeit schrieben. Wer völlig in den Hintergrund rückt, sind die Doktorväter - es wäre ihre Aufgabe gewesen ein Plagiat zu erkennen und dieses nicht mit "suma cum laude" zu bewerten. Peinlich für diese Professoren!! Trifft sie nicht auch eine gewisse Schuld?

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