Die Vorverurteilung in der Medienberichterstattung
Plagiat, Vergewaltigung, Mord! − Während (Bürger-)Journalisten eifrig darum bemüht sind, das mutmaßliche Fehlverhalten ihrer Mitmenschen − zuvorderst Personen der Zeitgeschichte − akribisch aufzudecken, bemühen sie diese auf dem medialen Schlachtfeld um Schadensbegrenzung: Was bleibt, ist der Fluchtweg nach vorn mit der Vorverurteilung im Nacken.
Das Thema der medialen Vorverurteilung ist aktueller denn je − Beispiel Annette Schavan: Was Anfang Mai 2012 auf schavanplag − einer „Dokumentation mutmaßlicher Plagiate in der Dissertation von Prof. Dr. Annette Schavan“ − seinen Lauf nahm, durchzieht die Medienagenda bis heute. Mittlerweile habe der Blogger namens Robert Schmidt die gesamte Dissertation der Bundesministerin für Bildung und Forschung analysiert, schreibt der Unispiegel und präsentiert dem Publikum dessen − wiederum ungeprüftes − Fazit: „Das geht deutlich über gelegentliche Fehler hinaus, die man durch Ungeschicklichkeit oder Schludrigkeit erklären könnte.“
Das Problem: Was als möglicherweise zurecht kritischer und in den Massenmedien kolportierter Vorwurf publiziert wird, verselbstständigt sich in der mediatisierten Welt schnell als Vorverurteilung (vgl. hierzu Schorb 2011). Die Folgen sind bekannt. Mehr oder weniger qualifizierte (und anonyme) „Plagiatsjäger“ verfolgten die Spur auf plagiatsgutachten.de weiter, das eigentlich „vertrauliche“ 75-seitige Gutachten eines Prüfers der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität sickert bald daraufhin durch die Medien. Hochschullehrer Stefan Rohrbacher − Vorsitzender eines Promotionsausschusses − bescheinigt der Wissenschaftsministerin „eine leitende Täuschungsabsicht“. Bis zu diesem Zeitpunkt hat der Ausschuss freilich überhaupt noch nicht getagt. An den einzig zuständigen Fakultätsrat kann dessen Empfehlung folglich nicht rausgegangen sein − ist ja aber auch gar nicht mehr nötig: Denn „Schummel-Schavan“ − so sie bereits von der Online-Redaktion von express.de genannt wird − ist in diesem Moment zwar noch nicht ihren Doktortitel los, ihr Ansehen aber allemal: „Für Schavan ist der Schaden angerichtet“, titelt Süddeutsche.de. Man könnte fast meinen, sie hätten aus der Affäre Kachelmann gelernt und prangern nun nach dem Vorbild von Deutschlandfunk die mediale Vorverurteilung an.
Wer ist verantwortlich bzw. wem gegenüber?
Aber: Was ist überhaupt zu verantworten bzw. wofür gilt das?
Ferner: Wovor soll sich verantwortet werden und welche Kriterien liegen dem zugrunde?
Wer sagt was? − Und wer sollte es besser sein lassen?
So weit also die − idealisierte berufsständische − Perspektive von Journalisten. Was aber ist die Sichtweise des mehr oder weniger aktiven Publikums? Im Fall von Dr. Schavan ist dieses mehrfach dimensioniert: Blogger − die sich irgendwo zwischen aktivem Rezipient der bisherigen thematischen Berichterstattung (Stichwort: Plagiate) und Bürgerjournalist verorten − suchen wie auf schavanplag gezielt nach Fehlern in Dissertationen: Die Promovierten sind „schuldig“, sobald sich Hinweise finden. Die Blogger finden Zuspruch − Nachahmer beginnen ebenfalls zu bloggen und bestärken sich gegenseitig in ihrer Nicht-Unschuldsvermutung. Inzwischen berichten auch wieder die herkömmlichen Medien, um nicht den Anschluss an das Social Web zu verlieren. Und dann? „Experten“ wie Stefan Weber melden sich darin zu Wort und beantworten die Frage, ob die Ministerin den Doktortitel verlieren soll, mit einem klaren „Jein“. Die „öffentliche Meinung“ (Pfetsch / Bossert 2006: 203) des eher passiven Publikums ist bestenfalls durch Meinungsumfragen in Erfahrung zu bringen und wird als solche veröffentlicht: 51 % der 1.000 befragten Personen wollen laut Forsa nicht, dass Frau Schavan zurücktritt. Aha.
Und schließlich sind da noch die betroffenen Akteure selbst, denen hier und dort Räume als ihre „medialen Bühnen“ zur Verfügung gestellt werden: Als da wären einerseits die, die vermutlich unschuldig sein müssten, aber beschuldigt werden. Ein Argument von Schavan: „Es ging mir damals nicht um den Titel, sondern um das Thema“ − Was sollte sie auch anderes behaupten? Und andererseits sind es diejenigen, die aus demselben Milieu der vermeintlichen „Täter“ stammen: Regierungsparteiangehörige (Unschuldsvermutung), Opposition (Nicht-Unschuldsvermutung) sowie Wissenschaftler (sowohl als auch).
Quellen und Sammlungen zum Thema
- Plagiatsgutachten.de: Blog für wissenschaftliche Redlichkeit [zuletzt geprüft: 31.10.2012]
- Netzwerk Medienethik [zuletzt geprüft: 31.10.2012]
- DJV − Deutscher Journalistenverband [zuletzt geprüft: 31.10.2012]
Literatur
- Beck, Klaus (2010): Ethik der Online-Kommunikation. In: Ders./Wolfgang Schweiger (Hrsg.): Handbuch Onlineforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 130-155.
- Bieber, Christoph (1999)(Hrsg,): Politische Projekte im Internet. Online-Kommunikation und politische Öffentlichkeit. Frankfurt am Main / New York: Campus-Verlag.
- Emmer, Martin / Wolling, Jens (2010): Online-Kommunikation und politische Öffentlichkeit. In: Schweiger, W. / Beck, K. (Hrsg.): Handbuch Online-Kommuniktion. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S, 36-58.
- Pfetsch, Barbara / Bossert, Regina (2006): „Öffentliche Kommunikation“, in: Bentele, Günter u.a.(Hrsg.): Lexikon Kommunikations- und Medienwissenschaft. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 203-204.
- Pürer, Heinz (2003): Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Ein Handbuch. Konstanz: UTB.
- Schorb, Bernd (2011): Zur Theorie der Medienpädagogik. In: Moser, Heinz / Grell, Petra / Niesyto, Horst (Hrsg.): Medienbildung und Medienkompetenz. Beiträge zu Schlüsselbegriffen der Medienpädagogik. München: Kopäd, S. 81-94.
Online-Quellen
- Deutscher Presserat: Pressekodex [zuletzt geprüft: 31.10.2012]
- dradio.de: Mediale Vorverurteilung auf dem Vormarsch. Prominente Angeklagte und mutmaßliche Opfer am öffentlichen Pranger. Online-Artikel vom 29.05.2011 [zuletzt geprüft: 31.10.2012]
- Express.de: MINISTERIN FÜR BILDUNG. Schummel-Schavan: Ist sie noch zu retten? Online-Artikel vom 14.10.2012 [zuletzt geprüft: 31.10.2012]
- Hannoverische Allgemeine Zeitung online: Mach Mord in Emden.Presserat warnt vor Vorverurteilungen. Online-Artikel vom 03.04.2012 [zuletzt geprüft: 31.10.2012]
- Plagiatsgutachten.de: Blog für wissenschaftliche Redlichkeit [zuletzt geprüft: 31.10.2012]
- Schavanplag: Dokumentation mutmaßlicher Plagiate in der Dissertation von Prof. Dr. Annette Schavan [zuletzt geprüft: 31.10.2012]
- Spiegel Online: Plagiatsaffäre um Bildungsministerin. Uni-Prüfer wirft Schavan Täuschung vor. Online-Artikel vom 14.10.2012 [zuletzt geprüft: 31.10.2012]
- Spiegel Online: Plagiatsvorwurf. Spitzenforscher verteidigen Schavan. Online-Artikel vom 16.10.2012 [zuletzt geprüft: 31.10.2012]
- Spiegel Online: Plagiatsvorwürfe gegen Schavan. "Das geht deutlich über gelegentliche Fehler hinaus". Online-Artikel vom 09.10.2012 [zuletzt geprüft: 31.10.2012]
- Süddeutsche.de: Plagiats-Affäre der Bildungsministerin. Für Schavan ist der Schaden angerichtet. Online-Artikel vom 15.10.2012 [zuletzt geprüft: 31.10.2012]
- Tagesspiegel Online: Plagiatsvorwürfe gegen Dissertation. Merkel: "Volles Vertrauen" zu Schavan. Online-Artikel vom 15.10.2012 [zuletzt geprüft: 31.10.2012]
- taz.de: PLAGIATSEXPERTE ÜBER SCHAVAN. „Keine wissenschaftliche Arbeit“. Online-Artikel vom 17.10.2012 [zuletzt geprüft: 31.10.2012]
- Welt Online: Umfrage: Bürger wollen keinen Schavan-Rücktritt. Rückendeckung aus der Bevölkerung. Online-Artikel vom 24.10.2012 [zuletzt geprüft: 31.10.2012]
- Zeit Online: PLAGIATSVORWÜRFE. Titelverteidigung*. Online-Artikel vom 18.10.2012 [zuletzt geprüft: 31.10.2012]
Angegriffen werden - zu recht - zu allererst jene, die ein Plagiat statt einer Doktorarbeit schrieben. Wer völlig in den Hintergrund rückt, sind die Doktorväter - es wäre ihre Aufgabe gewesen ein Plagiat zu erkennen und dieses nicht mit "suma cum laude" zu bewerten. Peinlich für diese Professoren!! Trifft sie nicht auch eine gewisse Schuld?
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