Montag, 7. Januar 2013

Was (ver)richtet die Medienethik?

Kann der wissenschaftliche Diskurs den medialen beeinflussen?

Medienethik als "Reflexionstheorie von Moral" (Luhmann 1993) stellt ethische Forderungen an den Journalismus, insbesondere in online-basierten medialen Räumen (vgl. Debatin 2004: 87). Dass sich die dort aktiven BürgerjournalistInnen offenbar nicht an professionelle Standards des Journalismus gebunden fühlen (wollen), ist der Prävention und Intervention medialer Vorverurteilung im Online-Zeitalter kaum zuträglich - auch nicht, dass verschiedene Bereichsethiken so zusammenfallen, dass kaum mehr klar ist, wer für die Reflexion der Moral eigentlich gerade zuständig ist (vgl. hierzu Beck 2010: 142ff., 146). Welche praktische Funktion vermag Medienethik zu erfüllen, wenn sie doch mit ihren wissenschaftlichen Fachartikeln üblicherweise im eigenen Saft schwimmt? Ein Ausbruchsversuch ins digitale Zeitalter.


Ziele der Medienethik und die Einlösung der eigenen Ansprüche?


Woran (nicht nur sozial-)wissenschaftliche Disziplinen im Allgemeinen kranken, ist letztlich das mangelnde Vermögen, ein breites Publikum zu erreichen - insofern teilt sie mit (Bürger-) JournalistInnen ein ähnliches Schicksal, nämlich den Kampf um Aufmerksamkeit und Glaubwürdigkeit (vgl. etwa Neuberger / Quandt 2010: 69). Oder wird Medienethik doch nicht nur von MedienphilosophInnen rezipiert, wie man es annehmen könnte? Diese hat das Ziel, ihren Standort zu sichern, Medienordnungspolitik zu begründen und Medienkompetenz zu fördern (vgl. Funiok / Schmälzle 1999: 15, 20). Dass Letztere Grundvoraussetzung dafür ist, der medialen Vorverurteilung entgegenzuwirken, wurde bereits im vorherigen Post zu Netzöffentlichkeit(en) dargelegt. Kann Medienethik ihren eigenen Ansprüchen genügen, indem sie im Prinzip nur theoretische Abhandlungen verfasst, die insofern keinen praktischen Nutzen haben, als dass sie sich zwar auf das digitale Zeitalter beziehen (wie Beck 2010), aber im Grunde nicht mit den digitalen AkteurInnen interagiert? Ethik befasst sich so mit institutionalisierten Kommunikationsprozessen im öffentlichen Raum (vgl. Lesch 1999: 56). Es ist an der Zeit, daran auch teilzunehmen...

Von der Reflexionstheorie zur praktischen Anteilnahme am Diskurs


Auch Medienethik als "ethische Reflexion der Handlungsnormen im Bereich der medienvermittelten Information und Kommunikation" (Funiok / Schmälzle 1999: 20) ist durchaus dazu im Stande, Optionen der digitalen Öffentlichkeit(en) für sich zu beanspruchen und die Enge des rein wissenschaftlichen Diskurses zu verlassen. Dies ist anzuraten, ist es doch ihr erklärtes Anliegen, NutzerInnen müsse - etwa angesichts journalistischen Handelns - Medienkompetenz und somit auch ethische Urteilsfähigkeit vermittelt werden (vgl. Funiok / Schmälzle 1999: 21f.). Wie sollte dies besser gelingen, als sich direkt in web 2.0-basierten Räumen zu bewegen? So begab sich Markus Schächter, seines Zeichens ehemaliger Intendant des ZDF, seit 2004 Professor für Medientheorie und Medienpraxis an der Hochschule in Hamburg und seit diesem Jahr in München, vom theoretischen in das reale Leben des Informationszeitalters: zum Gespräch der Woche vom Münchner Kirchenradio Podcast auf podcast.de:


Markus Schächter über Medienethik: Medienwelt muss neu vermessen werden

Schächter legitimiert seinen mit errichteten Lehrstuhl für Medienethik in München mit der Begründung, dass Journalismus in der seit zehn Jahren zunehmend digitalisierten Medienwelt (und ihrer "zerstörerischen Innovationskraft") nur vor dem Hintergrund gelingender Demokratie - nämlich durch das Einbeziehen der Meinungsvielfalt - realisiert werden könne. Dieses Erfordernis via Podcasting zu verbreiten, scheint ein logischer Schritt in Richtung Einlösung dessen zu sein, dass nebst philosophischer Bereichsethik (Funiok 2005) auch Lebenswirklichkeiten betrachtet werden sollen: und zwar des Web 2.0 als gegenwärtiges "Medium der Zukunft". Für Schächter (als Web 2.0-Freund) mag gewiss von Vorteil sein, dass er als ehemaliger Intendant überdies vom journalistischen Fach ist und sich die Frage zur Zukunft des Qualitätsjournalismus in der digitalen Welt stellt (vgl. auch Pürer 2003): Es fällt etwa das Stichwort "Algorithmenethik" - die das journalistische Problem des von Google monopolisierten Wissensmanagements reflektiert. Daneben  spricht er den "Turbo-Journalismus" an - die Hetzjagd um Aufmerksamkeit aufgrund des Aktualitätsdrucks (vgl. Pürer 2003: 126). Das medienethische, auf der Meta-Ebene via Podcast für die Netzöffentlichkeit(en) veröffentlichte Gespräch endet mit der Abgrenzung des Münchner Lehrstuhls von jeglicher Einmischung in konkrete Sachverhalte. Aufgabe sei die Beschreibung "guter Voraussetzungen" für Journalismus.
Vermag das 25-minütige Gespräch damit mehr zu erreichen als die eigentliche medienethische Arbeit?

Hört zum ersten Post ("Für Shavan ist der Schaden angerichtet"meines Blogs auch diesen Podcast an:


Gemessen am eigenen Maßstab – Annette Schavan und der Plagiats-Vorwurf

Literatur

  • Beck, Klaus (2010): Ethik der Online-Kommunikation. In: Ders./Schweiger, Wolfgang (Hrsg.): Handbuch Onlineforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 130-155.
  • Debatin, Bernhard (2004): Ethik des Online-Journalismus – Medienethische Kriterien und Perspektiven. In: Beck, Klaus /Wolfgang Schweiger/Werner Wirth (Hrsg.): Gute Seiten – Schlechte Seiten: Qualität in der Online-Kommunikation. München: Reinhard Fischer 2004, S. 80-99.
  • Funiok, Rüdiger (2005): Medienethik. In: Hüther, Jürgen / Schorb, Bernd (Hrsg.): Grundbegriffe Medienpädagogik. 4., vollständig neu konzipierte Auflage. München: Kopäd, S. 243-251.
  • Funiok, Rüdiger / Schmälzle, Udo F. (1999): Medienethik vor neuen Herausforderungen. In: Funiok, Rüdiger / Schmälzle, Udo F. / Werth, Chrisoph H. (Hrsg.): Medienethik − die Frage der Verantwortung. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 15-31.
  • Lesch, Walter (1999): Die schwierige Kunst der Trennung zwischen dem Öffentlichen und Privaten. Zur medienethischen Bedeutung einer grundlegenden Unterscheidung. In: Funiok, Rüdiger / Schmälzle, Udo F. / Werth, Christoph H. (Hrsg.):Medienethik – die Frage der Verantwortung. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 56-74.
  • Luhmann, Niklas (1993): Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Band 3. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Neuberger, Christoph / Quandt, Thorsten (2010): Internet-Journalismus: Vom traditionellen Gatekeeping zum partizipativen Journalismus? In: Schweiger, Wolfgang / Beck, Klaus (Hrsg.): Handbuch Online-Kommunikation. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 59-79.
  • Pürer, Heinz (2003): Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Ein Handbuch. Konstanz: UTB.

Online-Quellen

Sonntag, 16. Dezember 2012

Die Netzöffentlichkeit(en)

Risiko für mediale Vorverurteilungen oder Kontrollinstanz?

Der BürgerInnenjournalismus - Chance für die Meinungsfreiheit, Schrecken für JournalistInnenverbände - ist heute ein konstitutiver Bestandteil des publizistischen Mediensystems: ob Systematisierungen und empirische Untersuchungen im Zuge medienethischer Debatten, Bezugnahmen und Kolportierungen durch etablierte Massenmedien oder genuine (alternative) Medienberichterstattung - die Netzöffentlichkeiten(en) sind Arenen in einem Kampf um Aufmerksamkeit. Die Frage ist nur: für oder gegen mediale Vorverurteilungen?


Die Verortung der Netzöffentlichkeit(en) im System der medialen Vorverurteilung


Der Zugang zum Internet setzt nicht nur Lesekompetenz voraus.
Foto: Steve Rhode (CC BY-NC-ND 2.0) bei flickr.com.
Laut ARD/ZDF-Onlinestudie 2012 nutzen drei Viertel der Deutschen, d.h. etwa 54 Millionen Menschen, den Zugang zum Internet. Prinzipiell kann jeder von ihnen an den Netzöffentlichkeit(en) partizipieren, der des Lesens und Schreibens mächtig ist und weiß, wie man sich bei facebook (oder google plus) anmeldet (zum Begriff der Netzöffentlichkeit(en) Beck 2007: 108ff. und Bieber 1999: 56ff.). Dass Medienkompetenz jedoch mehr ist als die Fähigkeit, einen Browser zu öffnen, permanent unter Pseudonymen NutzerInnenkonten zu erstellen und diese auf der fragwürdigen Hetzjagd nach Kloutpunkten zu verbinden, liegt auf der Hand (siehe zum Begriff der Medienkompetenz Schorb 2005): Mediale Inhalte und Strukturen gilt es auf Basis von Wissen analysieren und bewertend einordnen zu können. Das eigene mediale Handeln muss kritisch-reflexiv durchdrungen werden. Moralische Urteile - gleichauf welchem gesellschaftlichen Konsens oder Selbstbindungskräften sie basieren - haben genauso Geltung wie im professionellen journalistischen Bereich, da Kommunikation stets auf moralischen Normen basiert (vgl. Beck 2010: 131f.)
Welche Funktionen nehmen diese Medienkompetenz erfordernden Netzöffentlichkeiten im System der medialen Vorverurteilung ein? Sind sie in erster Linie ein Risikofaktor, weil journalistische Geltungsansprüche, etwa in Ziffer 13 im Pressekodex des Deutschen Presserats, im Web 2.0 kaum eine Rolle spielen (vgl. Beck 2010: 142f.)? Kolportieren sie die Verfehlungen des professionellen Journalismus oder stacheln ihn gar dazu an, gegen Ziffer 13 zu verstoßen? Oder sind sie viel mehr Kontrollinstanzen, die etablierte Medienberichterstattung kritisch analysiert? Vermutlich ein bisschen von allem. Wichtiger ist aber die Frage: Wie erreiche ich einen moralisch vertretbaren Konsens, ohne dass a) sich die BürgerjournalistInnen in ihrem Freiheitsempfinden beeinträchtigt fühlen und b) keine Persönlichkeitsrechte Dritter verletzt werden (vgl. Schwenk 2002, nach Beck 2010: 146f.)?

Eine Lösung: Die Professionalisierung des Bürgerjournalismus?



Akteure alter und neuer Medien hielten 2007 eine "Session
Bürgerjournalismus" am "Jonettag" in Hamburg ab.
Foto: dream4akeem (CC BY-NC 2.0) bei flickr.com.
Wo führt sie hin, die Zukunft des Journalismus? Aus einer eher kulturpessimistischen Perspektive hat professioneller Journalismus eigentlich keine Zukunft. Zu viele Laien - die sich selbst wie etwa bei bild.de als "Lesereporter" bezeichnen würden - haben ihr "Netz" im publizistischen Mediensystem gesponnen. BloggerInnen versuchen als "Gatewatcher" (nach Bruns 2005), die thematischen Lücken aufzufüllen, die das gatekeeping-System der etablierten publizistischen Medien hinterlässt (vgl. Lovink 2008: 38f.). Stichwort: Bürgerjournalismus (vgl. etwa Emmer / Wolling 2010: 45). Öffentlichkeit(en) sind nicht mehr zu denken ohne entsprechende Netzöffentlichkeit(en). Professioneller Journalismus - oder das, was sich dafür hält - muss die anderen PlayerInnen im Web 2.0 also dulden, für die Inhalt und persönliche (Gegen-)Meinung über den Gehalt der medialen Quellen geht (vgl. Beck 2010). Die Lösung: Die AkteurInnen der "alten" und "neuen" Medien veranstalten wie im September 2007 am "Jonettag" ein gemeinsames "Mediacamp" in Hamburg, um mal ein bisschen über die veränderten Regeln zu verhandeln - klassisch (auf einem Podium mit VertreterInnen etablierter Massenmedien, MedienwissenschaftlerInnen und freien JournalistInnen) und bürgernah (mit einem Format, das sich "barcamp" nennt und dessen Konzept offenbar nur die anwesenden BürgerjournalistInnen verstanden haben). Was bei den "Sessions" (also zuvorderst Vorträgen und Podiumsdiskussionen) rauskam? Laut tintenblog-Autor Achim Barczok nicht viel: nur, dass JournalistInnen und BloggerInnen sich nach wie vor darüber streiten, ob es "Medienwächter" geben sollte, die Medienangebote nach Kriterien des "guten" Journalismus beurteilen. Eine Antwort darauf gab es freilich nicht - oder Barczok hatte sie nicht mitbekommen, weil er gerade mit Bloggen beschäftigt war. Auch dass neue Kommunikationsformen in die journalistische Ausbildung zunehmend integriert werden, wurde auf dem Podium bekannt gegeben: Nicht diskutiert wurde hingegen, dass BürgerjournalistInnen eine solche Ausbildung jedoch nicht genießen.
Was also tun, um Geltungsansprüche, die schon in der Mitte des 20. Jahrhunderts an den Journalismus gestellt worden sind, auf das Web 2.0-Zeitalter zu transferieren? Klaus Beck (2010) schlägt vor, auf Netiquetten zu setzen. Ihre Wirkung basiere auf der Macht der Überzeugung bzw. durch soziale Sanktionen - nicht also durch Gesetz und rechtliche Strafmaßnahmen. Ferner brauche es Selbstkontrolle, damit das Netz sich selbst regulieren kann (vgl. Beck 2010: 148f.). Immerhin, Versuche gibt es ja schon: FSM, USK.online und FSK.online...

Die Konsequenzen für die mediale Vorverurteilung im Zeitalter des Web 2.0


Eingangs sind bereits Fragen dahingehend gestellt worden, welche Funktionen Netzöffentlichkeiten im System der medialen Vorverurteilung einnehmen. Da die Kapazitäten dieses Blogs begrenzt sind, werde ich diesem Systematisierungsversuch in einer eigenständigen Seminararbeit nachgehen - mit dem Ziel, Lösungsansätze zu erarbeiten, mit denen medialer Vorverurteilung im Mediensystem präventiv bzw. intervenierend begegnet werden kann. Hierbei geht es nicht nur um die Frage, wie Bürgerjournalismus moralisch agieren muss, sondern auch darum, wie etablierte Medienberichterstattung Netzöffentlichkeit(en) für sich nutzbar machen kann, um die eigenen Geltungsansprüche optimaler einzulösen. Wagt man an dieser Stelle eine kulturpessimistische Prognose, müsste man davon ausgehen, dass moderner Journalismus als Mischform von Professionalität und Bürgerbeteiligung alle seine bisherigen Geltungsansprüche aufgeben müsste und somit medialer Vorverurteilung nichts mehr entgegen stünde: publizistische Anarchie statt deliberativer Teilöffentlichkeiten. Eine optimistische Betrachtung würde hingegen davon ausgehen, dass der selbstbestimmte online agierende Mensch moralisch richtig handelt, wenn ansonsten kommunikativer Ausschluss aus einer Netzöffentlichkeit droht (vgl Beck 2010: 136ff.). Die Realität liegt vermutlich irgendwo dazwischen.

Literatur


  • Beck, Klaus (2007): Öffentlichkeit, Öffentliche Meinung und öffentliche Kommunikation. In: Beck, Klaus (Hrsg.): Kommunikationswissenschaft. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft, S. 99-115.
  • Beck, Klaus (2010): Ethik der Online-Kommunikation. In: Ders./Wolfgang Schweiger (Hrsg.): Handbuch Onlineforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 130-155.
  • Bieber, Christoph (1999): Politische Projekte im Internet. Online-Kommunikation und politische Öffentlichkeit. Frankfurt am Main / New York: Campus-Verlag.
  • Bruns, Axel (2005): Gatewatching. Collaborative Online News Produxtion. New York: Peter Lang.Emmer, Martin / Wolling, Jens (2010): Online-Kommunikation und politische Öffentlichkeit. In: Schweiger, W. / Beck, Klaus (Hrsg.): Handbuch Online-Kommuniktion. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 36-58.
  • Lovink, Geert (2008): Zero Comments. Elemente einer kritischen Internetkultur. Bielefeld: Transcript.
  • Schorb, Bernd (2005): Medienkompetenz. In: Hüther, Jürgen / Schorb, Bernd (Hrsg.): Grundbegriffe Medienpädagogik. 4. Auflage. München: Kopäd, S. 257-262.
  • Schwenk, Johanna (2002): Cyberethik. Ethische Problemstellungen des Internets und Regulierungsansätze aus Sicht der Online-Nutzer. München: Reinhard Fischer.

Online-Quellen

Dienstag, 6. November 2012

GeBlogT - geblickt?

Ich teile, also bin ich: Die mediale Vorverurteilung (und ihre Kritik auf der Meta-Ebene) im Web 2.0


Kindesentführung, Vergewaltigung, Mord - das Thema der medialen Vorverurteilung (be)trifft längst nicht nur Personen der Zeitgeschichte! Eine Auswahl themenbezogener Videos findet ihr auf meinem Channel. Eine Erkenntnis vorab - es sind nicht die ursprünglichen MacherInnen der Videos, die sich auf einer Meta-Ebene mit der Problematik auseinandersetzen, sondern diejenigen, die sie ins Internet stellen.




"Der Berufsschüler aus Emden ist nicht Lenas Mörder" - irgendwie aber schon


Mediale Vorverurteilung arbeitet sich nicht allein an Personen der Zeitgeschichte ab. Beispiel: Emden. Wer im März 2012 glaubte, deutscher Journalismus habe aus den Verfehlungen der letzten Jahrzehnte gelernt (Stichworte: Gladbeck, Barschel), hat vielleicht Recht: Deutsche Journalisten betreiben die Gier nach Publizität aus Gründen eines persönlichen Prestiges und einer vermeintlichen Autorität heute durchaus subtiler (vgl. Habermas 1990: 292): und lösen ihren eigenen Geltungsanspruch nachträglich ein (vgl. Beck 2010: 136ff.). Problematisch: Das Internet vergisst nicht, noch weniger seine NutzerInnen.

Was war geschehen?


Ein elfjähriges Mädchen wird am 24. März tot in einem Parkhaus aufgefunden - kaum vier Tage später kolportiert u.a. die Online-Redaktion von n-tv eine dpa-Meldung: "Mordfall Lena in Emden - Polizei nimmt Verdächtigen fest". Interessant - aber daran haben wohl nicht allein die Medien Schuld: Ob es überhaupt einen "Mörder" gibt, müsste eigentlich ein Gericht feststellen (aber das nur am Rande). Es gibt sogar ein Video, das die Überwachungskameras aufgezeichnet haben und das die Polizei ins Netz stellt - schließlich vielfach von InternetnutzerInnen kopiert und auf YouTube gestellt. Darauf zu sehen ist ein dunkel gekleideter Mann mit Kapuze, jedoch keine Tat (aus Jugendschutzgründen wäre dies für die mediale Inszenierung wohl auch nur hinderlich gewesen). Das Bild hat indessen nicht die beste Qualität. Aber offenbar ist sie gut genug, um einen 17-jährigen Berufsschüler festzunehmen. Am selben Tag titelt die Hamburger Morgenpost: "Junge (15) soll Verdächtigen am Gang erkannt haben". Das Internet macht es möglich.

Mediale Vorverurteilung versus Verurteilung der Vorverurteilung?


Ein Zeitsprung: 48 Stunden später wird der Verdächtige wieder freigelassen - zu entnehmen ist dies u.a. einem YouTube-Video (siehe Channel), das sich wenig von einem Online-Artikel auf Süddeutsche.de unterscheidet: Das Video entstammt einem Bericht der Aktuellen Stunde auf dem Westdeutschen Rundfunk. Rein inhaltlich nehmen sich die Sendung und der Artikel wenig - sie thematisieren die Vorverurteilung von Polizei und Justiz, die dazu führte, dass nun ein wütender Mob - vor allem im Social Web - die Todesstrafe(!) für den unschuldigen 17-Jährigen fordert (wenigstens so lang, bis der nächste "Tatverdächtige" präsentiert wird). Wer ist also Schuld? - wenn es nach den Journalisten geht, die deutschen Behörden und das Mitmach-Internet. Laut Süddeutsche.de habe Oberstaatsanwalt Bernard Südbeck nach eigener Aussage zwar "stets darauf hingewiesen, dass der 17-Jährige lediglich Tatverdächtiger sei, um einer Vorverurteilung entgegenzuwirken". Wenn man dann weiterliest - insbesondere zwischen den Zeilen - hat genau dies aber zur "Hetzjagd in sozialen Netzwerken" geführt. Was der kritischen Betrachtungsweise der Journalisten fehlt, ist eigentlich nur die Kritik an sich selbst. Vielleicht haben sie im medialen Chaos der Teilöffentlichkeiten im Netz einfach die Orientierung verloren und übersehen, dass ja sie die Mittler der ursprünglichen Polizeimeldungen waren (vgl. u.a. Beck 2007: 107f.; vgl. Pfetsch / Bossert 2006: 204)? Der YouTube-Nutzer ThomKutlatschkowa2 hat es nicht und betitelt sein vom WDR geklautes Video mit "Mediale Vorverurteilung - Der 17 jährige Berufsschüler aus Emden ist nicht Lenas Mörder". Na endlich - jetzt muss das also nur noch der "überschaubaren" Zahl aller facebook-NutzerInnen beigebracht werden...

Social Media - Fluch und Segen der medialen Vorverurteilung?


Von "Lynchjustiz" schreibt Süddeutsche.de im Zusammenhang mit social communities. Anders als in den etablierten Medien wird "mediale Vorverurteilung" dort aber nicht nur betrieben, sondern auch auf der Meta-Ebene diskutiert. Die von Christoph Bieber konstatierte digitale soziale Bewegung und Gegenöffentlichkeit im Netz scheint sich zu bewahrheiten (vgl. Bieber 1999: 174-181): Beispiel YouTube-Nutzer Karl MaierVideo (siehe Channel) - Während in seinem hochgeladenen Video die Moderatorin der Sendung ZIP 2 vom österreichischen Fernsehsender ORF2 einleitend berichtet, ein Vater habe seiner Frau den 5-jährigen Bub entrissen, sieht der User, dessen Aussagen sicher auch nicht weniger an ExpertInnenwissen geknüpft sein mögen, das anders (vgl. Emmer / Wolling 2010: 40): "Nicht Vater hat Sohn entführt - es war die Mutter! Obsorge berechtigter dänischer Vater wird per Haftbefehl durch Europa gejagt und medial vorverurteilt" - ein mediales Machtspiel David (Internet-NutzerInnen) gegen Goliath (klassische Medien)?


Literatur

  • Beck, Klaus (2007): Öffentlichkeit, Öffentliche Meinung und öffentliche Kommunikation. In: Beck, Klaus (Hrsg.): Kommunikationswissenschaft. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft, S. 99-115.
  • Beck, Klaus (2010): Ethik der Online-Kommunikation. In: Ders./Wolfgang Schweiger (Hrsg.): Handbuch Onlineforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 130-155.
  • Bieber, Christoph (1999)(Hrsg,): Politische Projekte im Internet. Online-Kommunikation und politische Öffentlichkeit. Frankfurt am Main / New York: Campus-Verlag.
  • Emmer, Martin / Wolling, Jens (2010): Online-Kommunikation und politische Öffentlichkeit. In: Schweiger, W. / Beck, Klaus (Hrsg.): Handbuch Online-Kommuniktion. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 36-58.
  • Habermas, Jürgen (1990): Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. 1. Aufl. − Unveränd. Nachdr. d. zuerst 1962 im Hermann Luchterhand Verl., Neuwied, ersch. Ausg., erg. um e. Vorw. zur Neuaufl. 1990. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Pfetsch, Barbara / Bossert, Regina (2006): „Öffentliche Kommunikation“. In: Bentele, Günter u.a.(Hrsg.): Lexikon Kommunikations- und Medienwissenschaft. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 203-204.

Online-Quellen

Mittwoch, 31. Oktober 2012

„Für Schavan ist der Schaden angerichtet“

Die Vorverurteilung in der Medienberichterstattung


Plagiat, Vergewaltigung, Mord! − Während (Bürger-)Journalisten eifrig darum bemüht sind, das mutmaßliche Fehlverhalten ihrer Mitmenschen − zuvorderst Personen der Zeitgeschichte − akribisch aufzudecken, bemühen sie diese auf dem medialen Schlachtfeld um Schadensbegrenzung: Was bleibt, ist der Fluchtweg nach vorn mit der Vorverurteilung im Nacken.


Das Thema der medialen Vorverurteilung ist aktueller denn je − Beispiel Annette Schavan: Was Anfang Mai 2012 auf schavanplag − einer „Dokumentation mutmaßlicher Plagiate in der Dissertation von Prof. Dr. Annette Schavan“ − seinen Lauf nahm, durchzieht die Medienagenda bis heute. Mittlerweile habe der Blogger namens Robert Schmidt die gesamte Dissertation der Bundesministerin für Bildung und Forschung analysiert, schreibt der Unispiegel und präsentiert dem Publikum dessen − wiederum ungeprüftes − Fazit: „Das geht deutlich über gelegentliche Fehler hinaus, die man durch Ungeschicklichkeit oder Schludrigkeit erklären könnte.“
Das Problem: Was als möglicherweise zurecht kritischer und in den Massenmedien kolportierter Vorwurf publiziert wird, verselbstständigt sich in der mediatisierten Welt schnell als Vorverurteilung (vgl. hierzu Schorb 2011). Die Folgen sind bekannt. Mehr oder weniger qualifizierte (und anonyme) „Plagiatsjäger“ verfolgten die Spur auf plagiatsgutachten.de weiter, das eigentlich „vertrauliche“ 75-seitige Gutachten eines Prüfers der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität sickert bald daraufhin durch die Medien. Hochschullehrer Stefan Rohrbacher − Vorsitzender eines Promotionsausschusses − bescheinigt der Wissenschaftsministerin „eine leitende Täuschungsabsicht“. Bis zu diesem Zeitpunkt hat der Ausschuss freilich überhaupt noch nicht getagt. An den einzig zuständigen Fakultätsrat kann dessen Empfehlung folglich nicht rausgegangen sein − ist ja aber auch gar nicht mehr nötig: Denn „Schummel-Schavan“ − so sie bereits von der Online-Redaktion von express.de genannt wird − ist in diesem Moment zwar noch nicht ihren Doktortitel los, ihr Ansehen aber allemal: „Für Schavan ist der Schaden angerichtet“, titelt Süddeutsche.de. Man könnte fast meinen, sie hätten aus der Affäre Kachelmann gelernt und prangern nun nach dem Vorbild von Deutschlandfunk die mediale Vorverurteilung an.

Wer ist verantwortlich bzw. wem gegenüber? 


Sind es die bloggenden Bürger, die von ihrem Recht auf Meinungsfreiheit Gebrauch gemacht haben und ihrem subjektiven Gerechtigkeitssinn gefolgt sind (vgl. Pürer 2003: 151)? Die Journalisten, die als Mittler von Öffentlichkeit eben jene Standpunkte kolportieren (müssen) und für Recherchen keine Zeit oder keine Lust haben (vgl. Pfetsch, Barbara/Bossert 2006: 204)? Oder die Betroffenen, deren Rolle als Täter oder Opfer (eigentlich) noch nicht abschließend geklärt ist und die ihrerseits an den medialen Teilöffentlichkeiten beteiligt werden wollen (vgl. Emmer / Wolling 2010: 45)? Und welche Verantwortung trägt das mehr oder weniger passive und laienhafte Publikum, das 24/7 die Versorgung mit aktuellen Fakten und möglichst einfachen Erklärungen gewöhnt ist und auf legitime Schuldzuweisungen nicht gern allzu lange wartet, sodass es wiederum selbst im Internet aktiv wird (vgl. Pfetsch / Bossert 2006: 203; vgl. Bieber 1999: 186ff.)?


Aber: Was ist überhaupt zu verantworten bzw. wofür gilt das? 


Soll die Vorverurteilung der Personen und deren permanenter Image-Schaden an sich verantwortet werden? Das Versagen journalistischer Geltungsansprüche und der daraus resultierende Schaden für den Berufsstand (vgl. Beck 2010: 136ff.)? Das Profilieren individueller Akteure, indem diese anderen öffentlich medial schaden? Oder dass die Vorverurteilten ihnen überhaupt erst einen Anlass dazu geben?

Ferner: Wovor soll sich verantwortet werden und welche Kriterien liegen dem zugrunde? 


Ist es einzig das schlechte Gewissen, welche der medialer Vorverurteilungen als Instanz gegenübersteht? Ist es der Deutsche Presserat, der nachdrücklich auf die journalistische „Unschuldsvermutung“ hinweisen muss, während er gerade wegen der Berichterstattung über den Mord an einer Elfjährigen in Emden in einem Berg von Beschwerden erstickt? Oder obliegt die Rechtfertigung doch wieder den ursprünglich von vornherein „verurteilten Tätern“, die das Urteil entsprechender Gremien (z.B. eines Fakultätsrats) und der Öffentlichkeit über sich ergehen lassen müssen (vgl. Pfetsch / Bossert 2006: 203)?

Wer sagt was? − Und wer sollte es besser sein lassen?


Betrachtet man den Journalismus als Mittler realer Geschehnisse (vgl. Pfetsch / Bossert 2006: 204) − oder zumindest von Wirklichkeitsausschnitten −, geht es um die Frage: Welche Geltung haben journalistische Geltungsansprüche (vgl. Beck 2010: 136ff.)? Der Deutsche Presserat bezieht dazu mehr oder weniger eindeutig Stellung in seinem Pressekodex: Im Sinne der Berufsethik gelten publizistische Grundsätze, so insbesondere die Unschuldsvermutung (Ziffer 13). Die Berichterstattung dürfe zwar nicht „vorverurteilen“, dennoch dürfe eine Person − im nicht juristischen Sinn − als Täter bezeichnet werden, z.B. wenn „Beweise vorliegen“: „Zwischen Verdacht und erwiesener Schuld ist in der Sprache der Berichterstattung deutlich zu unterscheiden“. Wer jedoch „Schuld“ − im ebenfalls nicht juristischen Sinn − überhaupt feststellen kann, bleibt fraglich. Journalisten sollen die Öffentlichkeit „sorgfältig“ unterrichten. Der Spielraum ist besonders bei Amts- und Mandatsträgern sowie Personen der Zeitgeschichte groß, „wenn die ihnen zur Last gelegte Tat im Widerspruch steht zu dem Bild, das die Öffentlichkeit von ihnen hat“ − Eine plagiierende Wissenschaftsministerin bildet hierzu das perfekte Beispiel.

So weit also die − idealisierte berufsständische − Perspektive von Journalisten. Was aber ist die Sichtweise des mehr oder weniger aktiven Publikums? Im Fall von Dr. Schavan ist dieses mehrfach dimensioniert: Blogger − die sich irgendwo zwischen aktivem Rezipient der bisherigen thematischen Berichterstattung (Stichwort: Plagiate) und Bürgerjournalist verorten − suchen wie auf schavanplag gezielt nach Fehlern in Dissertationen: Die Promovierten sind „schuldig“, sobald sich Hinweise finden. Die Blogger finden Zuspruch − Nachahmer beginnen ebenfalls zu bloggen und bestärken sich gegenseitig in ihrer Nicht-Unschuldsvermutung. Inzwischen berichten auch wieder die herkömmlichen Medien, um nicht den Anschluss an das Social Web zu verlieren. Und dann? „Experten“ wie Stefan Weber melden sich darin zu Wort und beantworten die Frage, ob die Ministerin den Doktortitel verlieren soll, mit einem klaren „Jein“. Die „öffentliche Meinung“ (Pfetsch / Bossert 2006: 203) des eher passiven Publikums ist bestenfalls durch Meinungsumfragen in Erfahrung zu bringen und wird als solche veröffentlicht: 51 % der 1.000 befragten Personen wollen laut Forsa nicht, dass Frau Schavan zurücktritt. Aha.

Und schließlich sind da noch die betroffenen Akteure selbst, denen hier und dort Räume als ihre „medialen Bühnen“ zur Verfügung gestellt werden: Als da wären einerseits die, die vermutlich unschuldig sein müssten, aber beschuldigt werden. Ein Argument von Schavan: „Es ging mir damals nicht um den Titel, sondern um das Thema“ − Was sollte sie auch anderes behaupten? Und andererseits sind es diejenigen, die aus demselben Milieu der vermeintlichen „Täter“ stammen: Regierungsparteiangehörige (Unschuldsvermutung), Opposition (Nicht-Unschuldsvermutung) sowie Wissenschaftler (sowohl als auch).


Quellen und Sammlungen zum Thema


Sammlungen zum Thema


Literatur

  • Beck, Klaus (2010): Ethik der Online-Kommunikation. In: Ders./Wolfgang Schweiger (Hrsg.): Handbuch Onlineforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 130-155.
  • Bieber, Christoph (1999)(Hrsg,): Politische Projekte im Internet. Online-Kommunikation und politische Öffentlichkeit. Frankfurt am Main / New York: Campus-Verlag.
  • Emmer, Martin / Wolling, Jens (2010): Online-Kommunikation und politische Öffentlichkeit. In: Schweiger, W. / Beck, K. (Hrsg.): Handbuch Online-Kommuniktion. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S, 36-58.
  • Pfetsch, Barbara / Bossert, Regina (2006): „Öffentliche Kommunikation“, in: Bentele, Günter u.a.(Hrsg.): Lexikon Kommunikations- und Medienwissenschaft. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 203-204.
  • Pürer, Heinz (2003): Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Ein Handbuch. Konstanz: UTB.
  • Schorb, Bernd (2011): Zur Theorie der Medienpädagogik. In: Moser, Heinz / Grell, Petra / Niesyto, Horst (Hrsg.): Medienbildung und Medienkompetenz. Beiträge zu Schlüsselbegriffen der Medienpädagogik. München: Kopäd, S. 81-94.

Online-Quellen